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Die folgende Geschichte entstand 2016 für das Projekt Weihnachtsheft(*) zum Thema: "Macht hoch die Tür".

Die Flucht


 

“Die Fänger! Die Fänger! Lauft schnell, sie kommen!”

Lautes Schreien reißt ihn aus dem Schlaf. Chico springt erschrocken auf und verschwindet, so schnell er kann. Er rennt die Straße entlang, um eine Ecke, noch eine Straße, dann eine schmale Gasse. Niemand ist zu sehen, die anderen haben es wohl alle geschafft. In einer Mauer ist ein Loch, da quetscht er sich durch. Außer Atem duckt er sich in den Schatten und lauscht ängstlich nach draußen.

“Bist ihnen entkommen, was?”
Entsetzt fährt er herum, doch es ist nur der Alte, der auf einer Türstufe hockt. Chico nickt erleichtert - der Alte kennt alle Tricks und weiß, wo es ungefährlich ist, hier passiert ihm nichts.
“Glück gehabt, Kleiner. Hier biste erstmal sicher, aber keinen Laut, hörste? Ich hab keine Lust dass se mich am Ende auch erwischen. Bin immer davongekommen.”
“Ist gut, und danke.” Chico verkriecht sich in eine Ecke. Er ist müde, er war gerade erst eingeschlafen, als der Alarm kam. Hungrig ist er auch, viel zu lange schon hat er nichts gefunden. Schlafen hilft den Hunger vergessen. Doch er kann lange nicht einschlafen, zu tief sitzt der Schreck. Beim kleinsten Geräusch fährt er auf. Was soll nun werden? Das war das dritte Mal in ebenso vielen Tagen, dass sie verjagt wurden, nun weiß er nicht mehr, wo er hin soll. Ob der Alte etwas weiß? Er wird ihn fragen, später.

Als er aufwacht ist der Alte fort. Voller Angst schaut er sich um, doch es droht keine Gefahr. Es ist heiß, noch ist Siesta-Zeit, aber der Hunger treibt ihn auf die Beine. Er findet nichts, der Alte war gründlich. Was nun? Hierbleiben kann er nicht, er muss dringend was zu essen finden, er weiß schon gar nicht mehr, wann er das letzte Mal etwas hatte. Chico lauscht nach draußen auf die Straße, nichts zu hören. Er klettert auf die Mauer, alles scheint in Ordnung. Trotzdem, besser er sucht sich ein anderes Versteck, das letzte Mal war es auch so, und dann haben die Fänger sie doch gefunden. Vorsichtig schleicht sich Chico aus dem Hof und durch die Gasse. Immer in Deckung, an Mauern entlang und durch den Schatten, immer weiter, weg von allem, was er kennt. Er hat Angst vor dem Unbekannten, aber überall, wo er sich auskennt, sind jetzt die Fänger.

Es wird schon dunkel, als Chico stehenbleibt. Mauern gibt es hier kaum noch, dafür Häuser, höher als der Himmel. Und es riecht anders, überall duftet es nach Essen. Sein Magen knurrt. Leise schleicht er um eine Ecke, hier riecht es besonders gut. Zum Glück ist alles still. Da, da vorne, da ist etwas. Sein Magen rumpelt vor Hunger. Er schaut sich um, doch niemand bemerkt ihn. Chico lässt alle Vorsicht sausen und huscht über den Hof, immer dem Duft nach. Aus einer großen Kiste riecht es verführerisch nach Essen. Er zögert, aber dann knurrt sein Magen erneut, und plötzlich ist ihm alles egal. Kisten sind gefährlich, doch sein Hunger ist einfach zu groß. Vorsichtig kriecht er hinein, immer weiter. Dann knackt es, und die Falle schnappt zu.

Chico schreit auf.

~oOo~

Viel Zeit ist vergangen, Chico weiß nicht wie viel. Die Angst hat nachgelassen nach den ersten Tagen im Käfig. Es ist gar nicht so schlimm, nicht so wie alle immer erzählt haben. Sicher, er ist eingesperrt, draußen zu sein wär schöner. Aber dafür hat er keinen Hunger mehr, und Gefahr droht auch nicht. Er muss nicht kämpfen und nichts verteidigen, und gefangen worden ist er ja schon. Er weiß noch, er hat geschrien und getobt und dann geweint, aber es ist gar nichts Schlimmes passiert. Freundliche Stimmen haben mit ihm geredet, dann war er in einem glänzenden Raum, da haben sie ihn angeguckt und gepiekst und dann gelobt, weil er nicht gebissen hat. Dann ist er eingeschlafen, und als er aufwachte, tat ihm der Hintern ein bisschen weh. Aber das ist vorbei, und jetzt kommt jeden Tag jemand mit Essen und streichelt ihn. Das ist eigentlich ganz schön. Chico putzt sich zufrieden.

“Hallo Kleiner, wie geht’s dir?”
Das ist die nette Frau, die ihm sein Essen bringt. Chico freut sich, drückt sich ans Gitter und schnurrt.
“Heute ist ein großer Tag für dich, weißt du?”
Die Frau öffnet die Käfigtür und greift nach ihm. Chico kennt das schon und lässt sich hochnehmen. Sie trägt ihn in den glänzenden Raum, und dann kommt er wieder in einen Käfig. Erst erschrickt er, aber nur ein bisschen, und die Frau streichelt ihn durch das Gitter. Da wird ihm doch nichts passieren?

Alles vibriert und brummt. Chico drückt sich in die Ecke des Käfigs und weint. Was passiert mit ihm? Er sieht nichts, ein Tuch liegt über dem Käfig. Er hat Angst! Eine freundliche Stimme sagt etwas, aber es ist zu laut, er versteht nichts. Dann ist es still, dann wieder laut, dann brummt es noch viel schlimmer. Irgendwann ist es ihm egal, und er weint nicht mehr. Er drückt sich in die Ecke und rollt sich eng zusammen.

 

Viel, viel später ist endlich alles still und ruhig und bewegt sich nicht mehr. Es wird hell. Chico blinzelt. Alles ist fremd. Aber es ist warm und riecht gut. Eine freundliche Stimme sagt etwas, und dann geht das Türchen von seinem Käfig auf. Er lauscht, schnuppert argwöhnisch. Als nichts passiert, wagt er sich hinaus. Vorsichtig schaut er sich um. Da ist ein Kistchen für sein Geschäft, das ist gut, er muss mal. Ein Stück weiter findet er einen Teller mit Essen, lecker!

Auf dem Boden sitzt eine Frau. Er kennt sie nicht, aber ihre Stimme ist nett. Zaghaft kommt er näher und schnuppert an ihrer ausgestreckten Hand. Sie riecht gut. Chico reibt seinen Kopf an der Hand. Sie streichelt ihn.

“Hallo Chico! Willkommen in deinem neuen Zuhause!”

~oOoOo~

Chico gibt es wirklich. Heute teilt er sich mit drei Katzenkumpeln bei uns Sofa, Haus und Garten und ist zur großen Schmusebacke geworden. Manchmal wüsste ich gerne, ob er sich noch an sein Leben als Straßenkatze in Spanien erinnert.

 

 


(*) Das Weihnachtsheft ist eine Sammlung von Weihnachtsgeschichten verschiedener Autoren quer durch alle Genres und Themenbereiche. Seit 2009 erscheint jedes Jahr ein von einem Weihnachtslied inspiriertes Heft mit ungewöhnlichen und oft untypischen Geschichten zur Weihnachtszeit. Weitere Infos gibt es hier.

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